Pflanzen sind Vielstoffgemische mit reichem Inhalts- und breitem Wirkspektrum. Sie bestehen nicht nur aus einem Wirkstoff, sondern enthalten Hunderte verschiedener Inhaltsstoffe. Die primären Pflanzeninhaltstoffe, wie Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß, sind die Grundbausteine der Pflanzen. Die sekundären Pflanzeninhaltsstoffe, wie etwa Gerbstoffe, Bitterstoffe oder ätherische Öle, treten dagegen nur in sehr kleinen Mengen auf. In erster Linie dienen sie der Pflanze zur Abwehr von Schädlingen und Fraßfeinden. Die Vielfalt an antimikrobiell wirksamen Stoffen wurde im Laufe der Evolution zum Schutz vor Bakterien, Pilzen und Viren entwickelt (Ko-Evolution). Man kennt derzeit etwa 60.000 verschiedene sekundäre Inhaltsstoffe in Pflanzen. Diese Substanzen sind für die medizinische Wirksamkeit der Kräuter und Heilpflanzen verantwortlich.
Professor Hildebert Wagner, ehemaliger Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist einer der profiliertesten Wissenschaftler in der Phytotherapie-Forschung.
„Ein pflanzliches Vielstoffgemisch wirkt meist stärker als die Summe seiner Einzelteile“, sagt er und erzählt als Beispiel, wie seine Doktoranden aus zunächst hochwirksamen Pflanzenextrakten einen Einzelstoff isolierten, und die pharmakologische Wirkung damit zumeist deutlich abnahm. Wurden dann mehrere Einzelsubstanzen miteinander kombiniert, so potenzierte sich ihre Wirkung. Bereits eine einzelne Pflanze ist ein Vielstoffgemisch.
Kombiniert man darüber hinaus verschiedene Arzneipflanzen oder auch Teekräuter, so ist zu beobachten, dass die Gemische meist besser wirken als ein einzelnes Heilkraut.
In der klassischen Medizin sind Kombinationspräparate, also komplexe Substanzgemische, lange Zeit nicht ernstgenommen worden. Dort hatte man in der Forschung stets mit einzelnen Wirkstoffen gearbeitet, so dass die erzielten Effekte auch genau dieser Einzelsubstanz zugewiesen werden konnte. Das ist bei Wirkstoffgemischen, wie es Ganzpflanzenextrakte sind, in der Form nicht möglich.
Anzunehmen, dass „pflanzlich“ generell mit „harmlos“ oder „frei von Nebenwirkungen“ gleichzusetzen wäre, ist unzutreffend. Heilpflanzen besitzen als Vielstoffgemische jedoch eine große therapeutische Breite. Man versteht darunter den Abstand zwischen der Dosis, bei der die erwünschte therapeutische Wirkung eintritt, und der Dosis, die zu starken unerwünschten Nebenwirkungen im Sinne einer Überdosierung führt. Je größer die therapeutische Breite, desto sicherer ist das Arzneimittel.
Isoliert man nun einzelne Wirkstoffe aus Pflanzen, so besitzen diese nur eine geringe therapeutische Breite oder können sogar toxisch sein, während der Gesamtextrakt der Pflanze unproblematisch ist. Heilpflanzen sind daher in der Regel verträglicher als isolierte Monosubstanzen.
…erfordern komplexe Lösungen. Bei vielschichtigem Krankheitsgeschehen, wie zum Beispiel Krebs, Aids und Rheuma, werden inzwischen auch in der klassischen Medizin Wirkstoffkombinationen eingesetzt. Man hat festgestellt, dass diese an verschiedenen Stellen im Krankheitsgeschehen, an unterschiedlichen Zielstrukturen („Targets“) ansetzen. Aufgrund dessen verursachen Arzneimittel-Kombinationen weniger Nebenwirkungen. Die Dosis der einzelnen Wirkstoffe lässt sich zudem verringern.
Die Phytotherapie ist generell eine Multi-Target-Therapie, die zu gleicher Zeit diverse Ursachen und Begleitsymptome angeht. Vor allem für die Tierhaltung ist dies von großem Nutzen, da Erkrankungen selten nur auf einen einzelnen verursachenden Faktor zurückzuführen sind. Mit Kräutern und Heilpflanzen lassen sich gesundheitliche Störungen umfassend angehen. Als Beispiel mag Dr. Schaette’s Deep Breath zur Unterstützung der Atemwege dienen, in dem u.a. Bockshornkleesamen, Süßholzwurzel, Eibischwurzel, Anissamen und Spitzwegerich enthalten sind. Man macht sich die Vielfalt der krampf- und schleimlösenden, appetit- und ausscheidungsanregenden, stoffwechselunterstützenden, entzündungswidrigen und stärkenden Eigenschaften dieser Pflanzen zunutze.
„Wenn man mehrere Heilpflanzen kombiniert, lassen sich noch mehr Zielstrukturen erreichen, oder die Effekte an einzelnen dieser Strukturen verstärken sich. So wirkt eine Kombination aus Baldrian, Hopfen und Passionsblume stärker beruhigend als die Einzelpflanzen, weil die Hauptwirkstoffe verschiedene Ziele haben“, so Prof. Hildebert Wagner. Ferner vermutet man, dass manche Substanzen als „Türöffner“ wirken und anderen Stoffen den Eintritt in die Zelle erleichtern.
Die Wirkstoffgruppe der Saponine („Seifenstoffe“), wie sie zum Beispiel in der Süßholzwurzel, der Primelwurzel oder Efeublättern vorkommen, interagiert mit Biomembranen. Auf diese Weise verbessern sie die Resorptionsrate und damit die Bioverfügbarkeit weiterer Wirkstoffe. Die antibakteriell wirksamen ätherischen Öle sind dagegen in der Lage, Biofilme zu durchdringen und ermöglichen so auch anderen antimikrobiell wirksamen Substanzen das Eindringen.
(Interessant an dieser Stelle, dass sich die medizinische Forschung zur Zeit damit befasst, inwieweit auch die Wirksamkeit von Antibiotika durch begleitende Verabreichung pflanzlicher Wirkstoffe erhalten sowie verstärkt werden kann.)
Wie Prof. Melzig, Professor für Pharmazeutische Biologie der FU Berlin, es formuliert, sind Heilpflanzen mit antiinfektiver Wirkung evolutionär von der Natur unter ökologischen Aspekten als Abwehrstoffe „entwickelt“ worden und „biologisch geprüft“. Denn sie müssen sich bereits seit Jahrtausenden mit den sie bedrohenden Mikroorganismen und Fraßfeinden auseinandersetzen. Aufgrund der unterschiedlichen Zielstrukturen, die sie als Vielstoffgemische parallel ansprechen, sind bei Heilpflanzen Resistenzen, wie sie gegen synthetische Einzelwirkstoffe immer häufiger auftreten, nicht zu erwarten. Pflanzliche Wirkstoffe können bestehende Antibiotika-Resistenzen bei Bakterien sogar aufheben, was neue Perspektiven in der Therapie eröffnet.
Dies alles verdeutlicht, dass die aus Sicht mancher Menschen vermeintlich altbackene Therapie mit Kräutern und Heilpflanzen bei Mensch und Tier absolut zeitgemäß ist.
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